Magersucht

Die Magersucht bedeutet Verweigerung statt Verlangen und ist eine beängstigende Krankheit, die immer mehr Mädchen und junge Frauen betrifft.

 

Magersüchtige Mädchen und Frauen verweigern beharrlich die Nahrungsaufnahme und nehmen so immer stärker ab. Im Mittelpunkt steht also die Abmagerung des Körpers, die dem Beobachter zuerst auffällt. Die Symptome bestehen aber auch darin, dass die Betroffenen an Schlaflosigkeit leiden, nervös sind und an den Armen und Beinen meist besonders kälteempfindlich sind. Im Zuge der Unterernährung reagiert der Körper durch Verlangsamung seiner Funktionen . Niedriger Blutdruck, verlangsamter Herzschlag und Kreislaufstörungen sind die Folge. Das Immunsystem wird beeinträchtigt, so dass bei geschwächten Abwehrkräften die Anfälligkeit für Infektionen ansteigt. Die drastische Reduzierung des Körpergewichtes führt schließlich dazu, dass bei den Mädchen und Frauen die Menstruation ausbleibt.

Die Magersüchtige hat extreme Angst davor, dick zu sein. Selbst bei einem skelettartigen Körper entdeckt sie noch Stellen, die ihr zu dick erscheinen. Sie entwickelt eine verzerrte Wahrnehmung ihres Körpers. Experten bezeichnen dieses Symptom deshalb als Körperschemastörung.

Trotz Ablehnung der Nahrung denken Betroffene ständig über das Essen nach. Dies ist auf die Dauer sehr anstrengend und führt dazu, dass Magersüchtige sich zurückziehen, sich schwer konzentrieren können.

Wenn hier von Mädchen und Frauen die Rede ist, so heißt das nicht, dass Jungen nicht betroffen sein können. Der weit überwiegende Teil der an Magersucht (anorexia nervosa) Erkrankten sind jedoch Mädchen und junge Frauen zwischen 14 und 25 Jahren., auch wenn die Zahl männlicher Betroffener anzusteigen scheint.

Dies mag daran liegen, dass Frauen in unserer Gesellschaft immer noch hauptsächlich über Schönheit, Weiblichkeit und Körperlichkeit definiert werden. Der Körperkult ist aus unserer Gesellschaft nicht mehr wegzudenken. Auf den Titelbildern der Frauenmagazine rekeln sich schlanke, anmutige Frauenkörper, die zur Nachahmung anregen und Frauen mit wenig Selbstbewusstsein in den Diätenwahn treiben, bis sie letztlich die Kontrolle verlieren und sich ihrer eigenen Körperlichkeit trotz der ständigen Beschäftigung damit nicht mehr bewusst sind.

 

Untersuchungen haben gezeigt, dass insbesondere Mädchen aus der oberen Mittelschicht betroffen sind. Sie sind häufig überdurchschnittlich intelligent, sehr leistungsorientiert und neigen zum Perfektionismus. Außerdem wird betont, dass durch die Abmagerung des Körpers und dem damit einhergehenden Verlust der Weiblichkeit eine Flucht vor dem Erwachsensein und der Sexualität ausgedrückt wird. Zwar scheint die Tatsache, dass ein nicht geringer Anteil der betroffenen Mädchen und Frauen in ihrer Kindheit Opfer sexuellen Missbrauchs waren, diese Annahme zu stützen, man darf dabei jedoch nicht übersehen, dass mit einer solchen Einschätzung eine Infantilisierung der Frauen stattfindet, die die Frau wiederum in eine Rolle zwängt, aus der sie – und gerade die Magersüchtige – sich eigentlich befreien will. Eine solche isolierte Annahme wird den komplexen Zusammenhängen dieser Erkrankung nicht gerecht.

 

Mädchen und Frauen, die magersüchtig sind, zeichnen sich nämlich neben ihrer durchaus vorhandenen Verletzlichkeit und Labilität gerade durch ihr starkes und unbeugsames Verhalten aus, mit dem sie ihr Gewicht kontrollieren. Kontrolle ist ein hervorzuhebendes Element dieser Sucht. Die Magersüchtigen kontrollieren ihren Körper und erleben die Abnahme ihres Körpergewichtes als Sieg über ihre Bedürfnisse. Sie lehnen eigene Bedürfnisse als etwas Schlechtes ab und wollen und können ihnen nicht nachgeben. Sie haben zumeist schon als Kind gelernt, eigene Bedürfnisse zurückzustellen und statt für sich für andere da zu sein.

So ist es nicht verwunderlich, dass die Betroffenen allzu gerne bereit sind, für andere ein schönes Essen herzurichten, für das Wohlbefinden ihrer Umgebung zu sorgen und dabei selbst stets zu kurz kommen.

Sie ersetzen Verlangen durch Verweigerung und drücken ihre Unabhängigkeit damit aus. Dass sie in Wirklichkeit aber zutiefst abhängig sind und sich danach sehnen, ihre Bedürfnisse auszuleben, verneinen sie in einem qualvollen Akt der Selbstverleugnung.

 

Anorektische Mädchen und Frauen neigen dazu, sich ein strenges Programm körperlicher Aktivitäten aufzuerlegen. Dies hat zum einen den Zweck, das Körpergewicht weiter zu reduzieren. Noch wichtiger erscheint hierbei aber der Aspekt, dass die Betroffenen auch hierin die Bestätigung suchen, ihren Körper völlig kontrollieren zu können und trotz des Untergewichts zu sportlichen Höchstleistungen fähig zu sein.

 

Wir leben heute in einer Konsumgesellschaft, die einem Überfluss an Nahrungsmitteln mit strengen Diäten begegnet. Welche Frau hat nicht schon wenigstens eine Schlankheitskur durchgemacht? Es gehört heute fast zum guten Ton, eine gewisse Zurückhaltung an den Tag zu legen, wenn es um das Essen geht. Völlerei ist out, Askese ist in. Aus dieser Einstellung schöpfen dann auch die anorektischen Menschen ihr Selbstbewusstsein, wenn sie wieder einmal geschafft haben, was der Großteil der Frauen nicht schafft. Sie konnten auf Nahrung verzichten, während andere sich ihrer Ansicht nach gehen ließen.

Diese fatale Einschätzung macht die Magersüchtige innerlich stark, körperlich aber immer schwächer. Und so ist es auch zu erklären, dass Betroffene nicht schon viel früher zusammenbrechen, sondern stattdessen meist über viele Jahre mit einem kritischen Untergewicht leben. Sie schöpfen ihre Energie aus dem Bewusstsein, ihr Gewicht und damit ihr Leben kontrollieren zu können und damit anderen weit überlegen zu sein.

 

Dabei übersehen sie, dass sie schon lange nicht mehr nur schlank sind. Und das vormals gesteckte Ziel, anerkannt und akzeptiert zu werden, kehrt sich in das Gegenteil um. Zwar erregt die Betroffene Aufmerksamkeit, aber das Interesse gilt weniger ihrer vermeintlichen Schönheit, sondern ist vielmehr Ausdruck einer fast unangenehmen Faszination. Die anorektische Frau registriert das Interesse ihrer Umwelt und reagiert darauf, indem sie ihr Ziel, dünn zu sein, umso beharrlicher verfolgt.

 

Die Begegnung mit einer Magersüchtigen verursacht im Betrachter zum Teil ein unwiderstehliches Interesse an der geheimnisvollen Ausstrahlung, die die Betroffene umgibt. Ihr starker Wille und die Kraft, das eigene Körpergewicht derart unter Kontrolle zu haben, berührt immer auch das eigene Selbstverständnis. Andererseits geht dieses Interesse auch mit einer Verunsicherung einher, die eine Annäherung oder gar den Versuch einer Hilfestellung meist scheitern lässt. Diese Verunsicherung überträgt sich jedoch auf die Magersüchtige, die ja in den seltensten Fällen in der Lage ist, von selbst ihre Probleme oder Bedürfnisse zu offenbaren.

 

Wir können die Magersüchtige als Spiegelbild unserer Gesellschaft mit all ihren Widersprüchen und teilweise extremen und unerfüllbaren Wertvorstellungen betrachten. Wenn wir erkannt haben, wie krank betroffene Frauen tatsächlich sind, können und müssen wir auch unseren vorherrschenden gesellschaftlichen Normen kritisch gegenüberstehen.